Seit mehr als 15 Jahren werden junge Menschen nach dem System des „Reutlinger Modells“ ausgebildet. Entstanden ist diese besondere Form der Ausbildung durch eine Kooperation zwischen dem damaligen Rektor der Hochschule in Reutlingen, dem damaligen Schulleiter der Ferdinand-von-Steinbeis-Schule und ca. 8 Betrieben aus der Region. Einer dieser „Gründungsbetriebe“ des „Reutlinger Modells“, der von Anfang an mit im Boot war, ist die WAFIOS AG. „Abiturienten in Ausbildung“, das ist die Intention des Reutlinger Modells. Im folgenden Interview mit Nathalie möchten wir euch einen Einblick geben, was sich hinter dem „Reutlinger Modell“ verbirgt.
Vielen Dank Nathalie, dass du uns die Möglichkeit gibst, einen Einblick in das „Reutlinger Modell“ zu bekommen. Kannst du dich bitte kurz vorstellen? In welchem Ausbildungsjahr befindest du dich zurzeit? Für welche Fachrichtung des „Reutlinger Modells“ hast du dich entschieden?
Gern geschehen. Ich bin Nathalie, 22 Jahre alt und mache das Reutlinger Modell Mechatronik. Seit zwei Jahren bietet WAFIOS, neben dem etablierten Reutlinger Modell Maschinenbau auch das Reutlinger Modell Fachrichtung Mechatronik an. Zurzeit befinde ich mich im zweiten Ausbildungsjahr und damit kurz vor dem Abschluss meiner Ausbildung.
Was verbirgt sich hinter dem System des „Reutlinger Modells“?
Beim Reutlinger Modell macht man nicht nur ein Studium zum Bachelor of Engineering, sondern zusätzlich eine vollwertige Ausbildung, in meinem Fall als Mechatronikerin. Insgesamt dauert das Reutlinger Modell 4,5 Jahre (Regelstudienzeit). Das erste halbe Jahr ist die Ausbildung der Schwerpunkt. Während dieser Zeit geht man 4 Tage die Woche zur Arbeit und einen Tag die Woche in die Berufsschule, wo es eine eigene Berufsschulklasse für Reutlinger Modeller gibt. Ab dem Sommersemester beginnt zusätzlich die Hochschule. Für die Mechatroniker (bei den Industriemechanikern weichen die Angaben ab) heißt es dann 2 Tage Hochschule, 2 Tage Arbeit und 1 Tag Berufsschule. Während dieser 2 Tage an der Hochschule kann natürlich nicht das ganze Semester geschafft werden, deshalb werden nur die Hälfte der Vorlesungen besucht und die dazugehörigen Prüfungen geschrieben. Im darauffolgenden Wintersemester werden die anderen Fächer und Prüfungen absolviert. Da die Ausbildung von 3,5 Jahren auf knapp 2 Jahre verkürzt ist und, um sich gegen Ende voll auf die Ausbildung und dessen Prüfungen konzentrieren zu können muss nach einem Jahr an der Hochschule ein sogenanntes Urlaubssemester beantragt werden. So heißt es im vierten Halbjahr erneut 4 Tage Arbeit und 1 Tag Berufsschule. In dieser Zeit kommt der wahrscheinlich stressigste Zeitpunkt für die RT-Modeller Mechatronik, denn bei uns trennt die Abschlussprüfung Teil 1 (Zwischenprüfung bei den Industriemechanikern bereits im September) und die Abschlussprüfung Teil 2 nur wenige Tage. Das bedeutet insgesamt 2 praktische und 4 schriftliche Prüfungen binnen circa 4 Wochen.
Nach dem Bestehen der letzten Prüfung, dem Fachgespräch, ist die Ausbildung offiziell beendet und der Gesellenbrief in der Tasche. Für genau diesen Schritt fehlt mir aktuell nur noch das Fachgespräch. Zwischen diesem und den anderen Prüfungen liegen in der Regel mindestens 4 Wochen, währenddessen die Berufsschule jedoch bereits beendet ist. In dieser Zeit sind wir 5 Tage die Woche im Betrieb. Nach Beenden der Ausbildung beginnen die Sommerferien, wobei ein Ferienjob bei WAFIOS möglich ist, um eventuell den, ab sofort fehlenden, monatlichen Lohn auszugleichen. Nach dem Sommer beginnt das waschechte Studentenleben. Es geht weiter mit dem zweiten Semester. Ab diesem Zeitpunkt ist man nicht mehr bei WAFIOS angestellt und quasi frei in seinem weiteren Studium. Die Regelstudienzeit sind 7 Semester. Beim RT-Modell ist es angedacht das 5 Semester, also das Praxissemester nicht wie gewöhnlich zu absolvieren, sondern auf 2 Sommersemesterferien zu legen. Das bedeutet keine Ferien, aber in den angedachten 4,5 Jahren fertig mit der Ausbildung und dem Studium. Auch ein normales Praxissemester ist möglich, dann verlängert sich das Studium um ein halbes Jahr (insgesamt 5 Jahre). Es ist also alles ein wenig kompliziert.
Das klingt ja ganz schön vielfältig und abwechslungsreich. Kannst du uns die einzelnen „Bausteine“ bitte etwas genauer beschreiben?
Welche Inhalte und Themen standen in deiner Ausbildung im Berufsschulunterricht auf der Tagesordnung? Welche Tätigkeiten begleiteten deinen Arbeitsalltag in deiner Ausbildung zur Mechatronikerin?
In der Berufsschule gibt es nur wenige Fächer, denn da mindestens die Fachhochschulreife Voraussetzung für das Reutlinger Modell ist, fallen Fächer wie zum Beispiel Deutsch Englisch und Geschichte weg. Somit hat man Berufsfachliche Kompetenz Elektronik, Berufsfachliche Kompetenz Metall, Werkstattunterricht und Wirtschaft.
An der Hochschule hingegen stehen Elektrotechnik, Mathematik, Physik, Mechanische Antriebstechnik, Konstruktion, Informatik sowie Informatik-Praktikum im Stundenplan für das erste Semester.
In der Ausbildungszeit im Betrieb gibt es als Mechatroniker/in eine Menge in kurzer Zeit zu erlernen. Begonnen wird mit einem Grundlehrgang Metall, wobei Feilen, Biegen, Fräsen und Drehen erlernt wird. Die restliche Zeit verbringt man damit elektronische Dinge zu lernen, wie Schützschaltungen, SPS Programmierungen, Elektropneumatik, Löten, Schaltschrankbau, Schaltplan lesen und viele andere Themen. Zudem stehen immer wieder Herausforderungen an, bei denen es um Planung und Umsetzung von mechatronischen Systemen geht.
Kannst du hierbei auch Parallelen zwischen der Theorie und der Praxis herstellen?
Parallelen kann ich besonders gut zwischen erlerntem Wissen in der Berufsschule und der Praxis im Betrieb herstellen. Das Wissen aus den Vorlesungen an der Hochschule hingegen konnte ich bisher eher selten einbringen.
Hast du auch schon eine Vorstellung, welche Themengebiete im Studium auf dich zukommen werden?
Ja das habe ich. Der Ablaufplan kann auf der Homepage der Hochschule Reutlingen eingesehen werden. Im Grunde geht es vorerst mit denselben Fächern weiter. Gegen Ende stoßen Fächer wie Wirtschaft und Englisch hinzu.
Liegt dir dein Stundenplan für das zweite Semester, dein erstes „richtiges“ Studiensemester, schon vor?
Mit der Untis App können die Stundenpläne für alle Semester eingesehen werden. Der neue Plan für mein im Herbst kommendes Semester liegt mir noch nicht vor, jedoch ändert sich abgesehen von den Räumen, den Professoren und den Dozenten in der Regel nichts. Das heißt mein Stundenplan wird sehr ähnlich oder gar gleich aussehen, wie der vom jetzigen zweiten Semester.
Gibt es in deinem Studiengang auch die Möglichkeit, eigene Schwerpunkte zu setzen?
Es gibt nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Pflicht das zu tun. Wählen kann man zwischen Mikroelektronik und Automation/Robotic.
Was sind die Unterschiede zwischen dem „Reutlinger Modell Fachrichtung Mechatronik“ und dem „Reutlinger Modell Fachrichtung Maschinenbau“? Warum hast du dich für die Fachrichtung Mechatronik entschieden?
Mechatronik besteht aus Maschinenbau, Elektrotechnik und Informatik. Ein Mechatroniker wird in seiner Ausbildung nicht so viel mechanisches Wissen erwerben, wie ein Maschinenbauer, kennt sich jedoch auch in den zwei weiteren Bereichen aus und kann so in vielen Bereichen eingesetzt werden. Auch als Vermittler zwischen unterschiedlichen Abteilungen kann ein Mechatroniker sehr gut eingesetzt werden, denn er besitzt Wissen aus 3 wichtigen Bereichen. Wegen der vielen Möglichkeiten, der interessanten Bereiche und der Abwechslung habe ich mich für Mechatronik entschieden.
Was sind deine Erfahrungen?
Im Großen und Ganzen ist das Reutlinger Modell eine tolle Sache, denn der Praxisbezug ist unschlagbar und die Zeitersparnis sehr hoch. Denn Studium und Ausbildung hintereinander würden mindestens 7 Jahre dauern. Jedoch kann es auch sehr stressig werden, vor allem in den Prüfungsphasen, wenn zusätzlich zu den Hochschulprüfungen auch noch die Klausuren in der Berufsschule kommen. Auch das Abschließen der Ausbildung in nur 2 Jahre ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, denn in der Berufsschule wird einiges vorausgesetzt und der Lernstoff in zügigem Tempo durchgenommen.
Welche Vorteile siehst du in einer Ausbildung nach dem System des „Reutlinger Modells“?
Die große Praxisnähe, die vollwertige Ausbildung, denn so könnte bspw. auch bei Abbruch des Studiums als Facharbeiter gearbeitet werden und die Zeitersparnis.
Gibt es Aspekte des „Reutlinger Modells“, die dir erst im Laufe der Zeit bewusst wurden?
Die gibt es durchaus. Zum einen liegen bei den Mechatronikern die beiden Abschlussprüfungen für die Ausbildung meiner Meinung nach viel zu nah aufeinander, was unnötigen Stress und Angst vor dem Versagen auslösen kann. Außerdem fühlt man sich nicht als „richtiger“ Student, da man nur 2 Tage die Woche an der Hochschule ist. Auch sollte man sich bewusst sein, dass wenn andere Studenten Ferien oder frei haben, die Arbeit ruft.
Hast du schon eine Idee, in welche Richtung es nach dem Studium gehen könnte? Welche Möglichkeiten gäbe es?
Bis jetzt sieht es noch sehr vielfältig aus, schließlich habe ich noch mindestens 2,5 Jahre vor mir. Zurzeit schnuppere ich in verschiedene Abteilungen hier bei WAFIOS, um einen besseren Einblick zu bekommen. Es gibt einen Favoriten, aber ob das in 2,5 Jahren immer noch so aussieht und ob ich von WAFIOS eingestellt werde steht in den Sternen.
WAFIOS ist es aber sehr wichtig, mit „seinen Reutlinger Modellern“ auch während der Studienphase in Kontakt zu bleiben, weshalb ca. 3-mal jährlich der sogenannte „Reutlinger Modeller Stammtisch“ stattfindet. Bei diesem Treffen kann ein Austausch zwischen ausgebildeten Reutlinger Modellern und Reutlinger Modellern in Ausbildung stattfinden. WAFIOS hat mit diesem besonderen Modell das Ziel, nach dem Studium die fertigen Maschinenbau- und Mechatronikingenieure, im Unternehmen zu beschäftigen.
Welche Eigenschaften sollte ein/e Bewerber/in für das „Reutlinger Modell“ deiner Meinung nach mitbringen?
Ich finde Lernbereitschaft, Selbstständigkeit und Durchhaltevermögen sehr wichtig, denn die meiste Zeit muss eigenständig, ohne lange Erklärungen gearbeitet werden. Da heißt es sehr oft zuhören, nachlesen, nachfragen und ausprobieren. Durch die vielen Themen in nur 2 Jahren gibt es auch nicht viele Lernpausen, oder Wochen in denen das gleiche gemacht wird, das ist zwar abwechslungsreich, kann aber auch sehr anstrengend sein.